Warum »Wikileaks« auf Twitter nicht trending topic ist, vielleicht
Er ist mittlerweile einer der meistgesuchten Männer der Welt: Julian Assange. Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten im Fall »Wikileaks«, weltweit sind die Enthüllungsplattform und ihr Gründer Julian Assange das beherrschende Medien- und Politikthema. Allein: auf Twitter sind weder »Julian Assange« noch »Wikileaks« trending topics. Das verwundert, denn das Thema trifft den Nerv der Internetgemeinde weltweit und wird rege im Netz und auf Twitter diskutiert. Warum ist das so? Greift Twitter aktiv in den Algorithmus für die trending topics ein und verhindert – womöglich auf politischen Druck hin – dass der Begriff »Wikileaks« trendet?
Der Algorithmus für die trending topics
Zunächst müssen wir uns fragen, nach welchen Kriterien die zehn trending topics ausgewählt werden, bzw. welche Möglichkeiten es gibt, dass ein Begriff dort nicht auftaucht:
- Es gibt zu wenige Tweets mit dem Begriff
- Zu wenige Accounts (unique users) haben den Begriff verwendet
- Das Thema ist nicht neu genug
- Die Tweets, die »Wikileaks« enthalten, sind sich zu ähnlich, was nicht auf eine breite Streuung hinweist
- Der Algorithmus ist manipuliert
Twitter schweigt sich zum tatsächlichen Algorithmus aus, nach dem die trending topics generiert werden, deshalb bleiben uns an dieser Stelle nur plausible Annahmen.
Zu wenige Tweets
Die Anzahl der aktuelle getwitterten Tweets zu einem Thema ist sicherlich ein wichtiger Faktor, um in die trending topics zu kommen, wenn auch nicht der einzige. Vergleichen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt die zehn Top Themen mit Begriffen wie »Wikileaks«, »Assange«, »#Cablegate« und »#imwikileaks« fällt auf, dass »Wikileaks« mindestens auf Platz 2 der trending topics stehen müsste, »Assange« mindestens irgendwo im Mittelfeld.
Ich habe, um das zu überprüfen, die Original Twittersuche unter http://search.twitter.com angezapft. Dort kann man bis zu 1.500 Tweets zu einem Begriff zurückverfolgen und den Zeitstempel dieses Tweets auslesen. Man kann somit die Zeitdauer bestimmen, in welcher die letzten 1.500 Tweets zu einem Begriff abgesendet wurden. Je kürzer die Zeitspanne, desto „heißer” wird das Thema im Augenblick diskutiert.
Im Schaubild dargestellt ist das Alter des 1.500ten Tweets zum Zeitpunkt der Abfrage in Sekunden. Die ersten zehn Begriffe sind die weltweiten Top 10 Begriffe in der Reihenfolge, wie sie auch auf Twitter.com angezeigt werden. Allein die Tweetfrequen (das Alter des 1.500sten Tweets) ist kein ausreichender Indikator, um die Position innerhalb der Top 10 zu bestimmen. Man beachte die Begriffe »VnezuelaLovesBiebs« und »Citytv«, die aufgrund ihrer Häufigkeit eigentlich viel weiter vorne gelistet werden müssten, noch vor »Don Meredith« und »RIP Mark«.

Alter des 1.500ten Tweets mit dem entsprechenden Begriff zum Zeitpunkt der Abfrage in Sekunden. (Die Begriffe »RIP Mark« und »#imwikileaks« sind in Wirklichkeit noch älter=länger als im Schaubild angegeben) (Zum Vergrößern anklicken)
Zu wenige User nutzen den Begriff
Allein nach der schieren Menge der Tweets mit einem bestimmten Begriff zu gehen, würde Spam Tür und Tor öffnen. Zu leicht ist ein Account angelegt und darauf programmiert, sekündlich den eigenen Hashtag zu twittern. Deshalb ist es plausibel, die Anzahl verschiedener Accounts, die einen Begriff twittern, in den Blick zu nehmen, um zu entscheiden, ob der Begriff im Augenblick trendet oder nicht.
Je mehr unterschiedliche User einen Begriff nutzen, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Begriff tatsächlich gerade en vogue ist und dass es sich nicht um einen Spam-Angriff handelt. Hier fällt auf, dass die Begriffe »Wikileaks« und »Assange« durchaus im Rahmen sind. Andere Begriffe wie »VnezuelaLovesBiebs« werden von viel weniger Accounts gehyped, nichts deutet darauf hin, dass nur wenige Zombie-Accounts für die hohe Tweetfrequenz (siehe oben) verantwortlich sind.

Unique Users, die innerhalb der letzen 1.000 Tweets den angezeigten Begriff getwittert haben. (Zum Vergrößern anklicken)
Das Thema ist nicht neu genug
Wenn jeden Tag »Guten Morgen« getwittert wird, ist das nicht unbedingt wert, in die trending topics zu kommen. Deshalb ist es plausibel, wenn Josh Elman, der nach eigenen Aussagen bei Twitter arbeitet, darauf hinweist, dass, um in die topics zu kommen, das Wachstum eines Begriffaufkommens im Zeitverlauf betrachtet wird. Dieses Thema hat sich Angus Johnston genauer angesehen. Ich empfehle an dieser Stelle seinen Post Still More Questions About Why Wikileaks Hasn’t Trended On Twitter, der von Thomas Schaffer ins Deutsche übersetzt wurde: Warum ist Wikileaks kein trending topic bei Twitter? Sein Fazit: Der Begriff »Sundays« trendet regelmäßig am Wochenende, wohingegen es um »Wikileaks« in den Wochen vor der Veröffentlichung von »#Cablegate« relativ ruhig war auf Twitter. Man kann also gut begründen, warum »Wikileaks« als neuer Begriff auf Twitter, ganz im Gegensatz zum trendigen »Sundays«, angesehen werden kann. Demnach müsste »Wikileaks« eigentlich trenden.
Die Tweets zum Thema Wikileaks sind sich zu ähnlich
Die Frage, ob ein Thema wirklich viele Menschen umtreibt, ist nicht ganz leicht zu beanworten. Wird ein Tweet von vielen Menschen retweetet, aber nicht verändert, könnte man daraus schließen, dass sie das Thema nicht so sehr interessiert wie ein anderes. Mit anderen Worten: Kommt ein Begriff in vielen unterschiedlichen Kontexten vor, ist das ein Hinweis darauf, dass das Thema (der Begriff) die Menschen mehr umtreibt, als wenn die einzelnen Tweets sich sehr ähneln.
Sehen wir uns den Anteil der Retweets an den Tweets an. Als Retweet wurden alle Tweets gewertet, die die Zeichenfolge »RT @« enthalten. Auch hier liegen die beiden Begriffe »Wikileaks» und »Assange« mit einem Retweet-Anteil von 40% noch im Rahmen der Top 10. Zwar wird »thingsimiss« insgesamt weniger retweetet und damit automatisch mehr einzigartig kreiert, aber andere Begriffe aus den Top 10 haben einen deutlich höheren Retweet-Anteil als »Wikileaks«.

Anteil der Retweets auf 1.000 Tweets mit dem entsprechenden Begriff. Je geringer der Retweets-Anteil an den Tweets ist, desto mehr setzen sich die twitternden Accounts mit einem Begriff auseinander, bevor sie ihn twittern. (Zum Vergrößern anklicken)
Sehen wir uns die Unterschiedlichkeit der einzelnen Tweets an. Je mehr sich einzelne Tweets zu einem Thema unterscheiden, desto mehr kann man davon ausgehen, dass das Thema viele Menschen sehr bewegt. Ich habe dazu ein sehr einfaches, nicht semantisches Verfahren benutzt: Die Standardabweichung der Tweetlänge. Dabei habe ich von 1.000 Tweets zu dem jeweiligen Thema die Längen (bis zu 140 Zeichen) der Tweets abgefragt und gemessen, wie sehr sich die einzelnen Tweetlängen von der durchschnittlichen Tweetlänge zu diesem Thema unterscheiden. Das statistische Maß dafür ist die Standardabweichung. Hier das Ergebnis:

Wie sehr unterscheiden sich die einzelnen Tweets zu einem bestimmten Thema? Je geringer die Standardabweichung ist, desto ähnlicher sind sich die Längen der Tweets. (Zum Vergrößern anklicken)
Es zeigt sich, dass Tweets mit Begriffen wie »Wikileaks« und »Assange« einander in ihrer Länge um einiges ähnlicher sind als die Tweets mit Begriffen aus den Top 10. Das scheint der bisher einzige Anhaltspunkt – außer menschlicher Manipulation – zu sein, weshalb »Wikileaks« nicht trenden könnte, obwohl es so sehr häufig von vielen unterschiedlichen Menschen getwittert wird.
Fazit – Zensur oder nicht?
Ob dieser schwache Anhaltspunkt als Erklärung ausreicht, warum »Wikileaks« nicht trendet, obwohl es neuartig, häufig und von vielen verwendet wird, vermag ich an dieser Stelle noch nicht zu beurteilen. Es stünde der Firma Twitter gut zu Gesicht, wenn sie den trending topics-Algorithmus offenlegen würde.
Linus Neumann merkt - leicht ironisch - auf Netzpolitik.org an, dass „es [vielleicht] eine Schutzmaßnahme gegen das US State Department [sei], das Menschen, die dort noch einen Job haben wollen rät, sich nicht bei Facebook oder Twitter als Wikileaks-Sympathisant zu präsentieren”.
Dem widerspricht Twitter, wie Mashable berichtet: „Twitter is not censoring #wikileaks, #cablegate or other related terms from the Trends list of trending topics“.
Die Wahrheit kann nicht dazwischen liegen. Aber sie ist irgendwo da draußen.
Wenn ich etwas <> schreibe, dann ist es meist ein nicht ernstzunehmender ironisch-scherzhafter Kommentar. Das erkennt man auch an den 2 Links zu mindestens-80%-reinen Bullshit-Artikeln.
Mit einer als ernsthaft zitierten Vermutung, dass Wikileaks seine User gegen das State-Department schützen wolle, lasse ich mich ungern zitieren. Würde mich freuen, wenn die Ironie anerkannt würde.
(Antworten)
Linus Neumann antwortete am Dezember 7th, 2010 :
<> = klein
(Antworten)
Thomas Pfeiffer antwortete am Dezember 7th, 2010 :
Ich habe Deine sanfte Ironie im Artikel vermerkt.
(Antworten)
(@drbieber)
sehr gut, sehr ausführlich, sehr nachvollziehbar - thx!
ganz abgesehen von der frage, ob hier etwas unterdrückt wird oder nicht, gibt es noch einen weiteren punkt, der ein “trending” von #wikileaks zumindest erschweren dürfte - das thema ist aufgrund seiner komplexität einfach zu “breit” geworden.
#wikileaks und #cablegate waren wohl die hashtags der ersten stunde, natürlich auch #assange als die personality-story dahinter. doch inzwischen ist die “enthüllung” um zahlreiche facetten erweitert worden, die ganz andere themen und diskussionsverläufe (und eben auch hashtags) in den vordergrund stellen. allein schon die inhalte der “kabel” (ich finde das wort so herrlich altmodisch, das ich es zu gerne noch mal hervorheben möchte) lösen in den betroffenen ländern ganz eigene debatten aus, die nur von eher wenigen mit dem #wikileaks-hashtag markiert werden. das hat sicher auch mit der verteilten distribution über die alten massenmedien zu tun.
dann gibt es den eigenständigen “blockaden”-thread durch amazon, paypal, mastercard, ebenso die ganze eher technisch geprägte frage um den entzug des domain-namens und das “crowdhosting”. auch die debatte um investigativen journalismus löst sich immer mehr von wikileaks als zentralem akteur ab und nicht zuletzt die frage der twitterzensur ist schon wieder ein eigener aspekt.
das alles spricht überhaupt nicht gegen die popularität und verbreitung des themas, eher ist das gegenteil der fall.
(Antworten)
Christoph Bieber
(@drbieber) antwortete am Dezember 7th, 2010 :
hmpf, was ist das denn für ein blöder avatar. naja, selbst schuld ;-)
(Antworten)