Stuttgart21 im Spiegel von Twitter
Selbst ein alter Scharfmacher wie der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hat erkannt, was Christoph Bieber in seinem neuen Buch »Politik Digital - Online zum Wähler« als neue politische Kommunikationskultur beschreibt. „Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehören dem vorherigen Jahrhundert an“, sagte Geißler in einem Interview der Bild am Sonntag. Sogar der bisher unnachgiebige Bahnchef Rüdiger Grube hat vor, in Zukunft bei anderen Projekte auf „einen offenen Dialog mit den Bürgern zu setzen”.
Das Internet bietet gute Chancen, Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungen einzubeziehen: http://www.reparier-meine-strasse.de oder http://www.nexthamburg.de/ sind solche Beispiele, bei denen sich Menschen direkt in die (Lokal-)Politik einmischen können (eine Auswahl interessanter Online-Projekte zur Bürgerbeteiligung bietet das Portal http://www.kampagnenpraxis.de/)
Aber wenn Vater Staat und seine Verwaltung solche Möglichkeiten des Engagements nicht vorsehen, dann geht halt der Berg zum Propheten und nimmt sich sein Recht, das Großprojekt Stuttgart 21 stellt (hoffentlich) einen Wendepunkt dar. Über Twitter, Facebook, Blogs, die Massenmedien und sicherlich auch über Telefonketten organisieren sich die Menschen und fordern, von der Politik gehört zu werden. Twitter spielt dabei sicherlich keine zentrale Rolle („So was wie der Protest gegen die Startbahn West oder den WAAhnsinn Wackersdorf wäre ohne Twitter ja gar nicht möglich gewesen”), aber durch seine offene Struktur bietet es Sozialwissenschaftlern eine umfassende Möglichkeit, die Gesetzmäßigkeiten dieser Online-Kommunikation in Echtzeit zu beobachten.
Seit dem 4, Oktober, dem Montag nach dem „Blutigen Donnerstag”, sammle ich alle Tweets, die mit #s21 getaggt sind, und habe sie nun ausgewertet. Hier die Ergebnisse.
Insgesamt wurden in der Zeit vom 4. Oktober bis zum 18. Oktober 97.700 Tweets mit #s21 von 10.034 verschiedenen Usern getwittert. Darunter sind wenige Powertwitterer, die mehr als 500 Tweets abgesetzt haben (332). Etwa 13 Prozent (1.317 User) haben mehr als zehn Mal mit Bezug zu Stuttgart 21 getwittert. Der Großteil der Personen (4.955 oder 49%) hat allerdings nur einmal zu #s21 getwittert, der Median liegt bei lediglich zwei Tweets zum Thema.
Ist Stuttgart 21 ein lokales Thema?
Interessant ist, woher diese Twitterer stammen. Sind das hauptsächlich Schwaben und Badenser, die sich da um ein regionales Infrastrukturprojekt Sorgen machen? Folgendes geben die Twitterzahlen her:
Von den 10.034 Twitterati konnte ich 4.883 einem deutschen Bundesland zuordnen (andere hatten entweder keinen Ort in ihrem Twitterprofil angegeben oder der Ort war nicht eindeutig zuordbar („hinterm Mond“) oder die Twitterer sind Ex-Patriaten). 21% von ihnen (1.040) haben als Wohnsitz Baden-Württemberg angegeben, wohnen also zwischen Main und Bodensee. Dabei stellen die 10,7 Mio. Landeskinder gerade mal 13% an der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik (81,8 Mio).
Bei den Städten liegt Berlin mit 695 Twitterern an der Spitze, gefolgt schon von Stuttgart (444), Hamburg (348), München (165) und Frankfurt (118) , die zu #s21 in den letzten zwei Wochen twitterten. Das ist einerseits nicht verwunderlich, weil in den Großstädten verhältnismäßig viele Twitteristi leben (vgl. dazu mein Beitrag Zahlenspiele im Bundesländervergleich). Dennoch wohnt fast jeder zehnte, der sich zum Thema äußert, in der Schwabenmetropole (444 von 4.584, von denen ich einen Wohnort ermitteln konnte) . Diese Anteile erhöhen sich im Übrigen leicht, wenn man sich nur die Poweruser ansieht, die mehr als zwei bzw. fünf Mal zum Thema getwittert haben: Mehr als zwei Mal getwittert: 12% aus Stuttgart, 24% aus BaWü, mehr als fünf Mal: 17% aus Stuttgart, 30% aus BaWü.
Worüber wird auf Twitter zu Stuttgart 21 gesprochen?
Es ist nicht verwunderlich, dass man in den nur 140 Zeichen langen Kurznachrichten auf Twitter keine langen Argumente findet. Aber es fällt auf, dass vor allem die Namen der Hauptbeteiligten Mappus, Gruber und Geißler vorkommen, andere Politiker aber nicht. Der Bundesvorsitzende der Grünen und Schwabe aus Bad Urach Cem Özdemir hat sich schon mehrfach zu Wort gemeldet, aber das findet kaum Niederschlag in den Kurzmeldungen auf Twitter (260 bzw. 2,6 Promille). Auch Winfried Kretschmann, grüner Spitzenkandidat für die Landtagswahlen im März 2011 mit Chancen auf den Wahlsieg, kommt nur auf 487 Erwähnungen. Angela Merkel im fernen Berlin wird in den ersten beiden Oktoberwochen 1.217 Mal im Zusammenhang mit #s21 erwähnt (wenigstens ist Karl Theodor zu Guttenberg mit 85 Nennungen nicht wieder vorne mit dabei, der Mann ist ja immerhin Oberbefehlshaber der Bundeswehr - in Friedenszeiten).
Mappus, Geißler, Grube, CDU und Polizei sind die Top-Begriffe, gefolgt von Baustopp, Wasserwerfer, Demonstranten und Polizeigewalt (wohlgemerkt: die Bestandsaufnahme der Tweets begann erst am Montag nach der umstrittenen Räumung des Schloßparks mit Wasserwerfern und Pfefferspray).
Die Protestausweitung durch Twitter
49.448 oder 51% der Tweets mit #s21 sind kommentierte oder unkommentierte Retweets (49% sind unkommeniert).
39 % aller Tweets von bundesdeutschen Usern stammen von solchen, die in ihrer Location einen Ort in Baden-Württemberg angegeben haben.
Von den 10.034 #s21-Accounts sind 295 (3%) erst nach dem als Blutiger Donnerstag bezeichnetem 30. September angelegt worden. Von diesen jungen Accounts konnte ich bei 66 ein deutsches Bundesland erkennen, 24 Mal heißt das Baden-Württemberg. 62 haben eine bundesdeutsche Stadt angegeben (die ich auch ermitteln konnte), 19 davon sind aus dem Kessel.
Drei Prozent Neuanmeldungen in nur gut zwei Wochen sind relativ hoch, das aktuelle Twitterwachstum ist weitaus geringer, was für die These von Christoph Bieber spricht, dass das Twitterwachstum nicht kontinuierlich, sondern ereignisbezogen verlaufe. Der Anteil der Stuttgarter an den Neutwitterern ist hoch (19 von 62), allerdings ist die Datenbasis hierfür natürlich dünn.
Carta hat einen rasanten Anstieg des Tweetaufkommens zu #s21 am 30. September ausgemacht, der auch weiterhin recht hoch bleibt. Der Online-Wiederhall zu Stuttgart 21 hat einen klaren Beginn und einen deutlichen Namen: Der Blutige Donnerstag am 30. September. (Vgl. dazu auch das Suchaufkommen bei Google zum Begriff Stutgart21)
Eine ganz andere Gefahr für die Demokratie?
Früher, z.B. bei der Startbahn West oder in Wackersdorf, war eine nationale Aufmerksamkeit nur mit Hilfe der Massenmedien möglich und das dauerte auch sehr viel länger. Heute geht es mit Twitter und Co. sehr viel schneller, was natürlich auch Gefahren für die öffentliche Meinungsbildung mit sich bringt. Ein großer Teil der Tweets dürfte inhaltlich gefärbt sein, also weder „neutral” noch wenigstens der Versuch einer neutralen Beobachtung sein, sondern sie dürften „Extrempositionen” darstellen, die insgesamt massenhaft (50%) zitiert wurden. Chistoph Bieber meint dazu: „Für die Medien resultiert daraus ein erheblicher Druck: sie müssen auch schnell sein, sollten dabei aber möglichst ausgewogen und analysierend berichten (bis auf die Meinungsbeiträge, aber das ist ein anderes Thema). In Echtzeit geht das nicht, die Frage ist, wieviel Zeit unter diesen Bedingungen noch für Recherche bleibt.”
“sie müssen auch schnell sein, sollten dabei aber möglichst ausgewogen und analysierend berichten”
Das tun Medien nicht. Die meisten Journale, Artikel und Nachrichten sind nicht minder meinungsgefärbt wie jeder Twitter-Tweet! Das ist fakt! Das sieht man beim ARD Online-Angebot bzw. der Tagesschau genauso wie bei regionalen Blättern wie zb das Bergische Handelsblatt oder die Stuttgarter Zeitung. Zeitungen haben Meinungen und die entscheidet darüber ob man die CDU und S21 in den Himmel lobt wie in der Stuttgarter Zeitung oder ob man sich positiv über Erneuerbare Energien äußert wie in der TAZ.
Das Problem sit, dass die meisten wichtigen bzw. großen Zeitungen in den Händen einiger Medienmoguls sind. Solange das der Fall ist ist Twitter viel objektiver als jede Zeitung weil Twitter eben den Pluralismus zulässt den die Zeitungen sich verbieten.
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(@michaelmaass)
Epic 2015: http://www.youtube.com/watch?v=hZEhtVoI16g
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Eine Zeitung sollte zur Meinungsbildung beitragen, und keine Meinungsmache betreiben. Zu Letzterem sind sich jedoch Stuttgarter Nachrichten nicht zu schade, genauso auch die Stuttgarter Zeitung. Aufsichtsrat beim SWR ist OB Schuster. Die FAZ scheint sehr auf ihr Klientel zugeschnitten zu schreiben. Focus hat schon lange nichts mehr Fakten zu tun.
Ich sehe eine zunehmende Desinformations-Kampagne der CDU durch die Medien schwappen, die offensichtlich nicht gewillt sind investigative Recherche zu betreiben, sondern einfach nur das abdrucken was ihnen gesagt wird. Daher wird es immer wichtiger, sich nicht einlullen zu lassen, sondern selber zu recherchieren.
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(@hanno)
“Ein großer Teil der Tweets dürfte inhaltlich gefärbt sein, also weder „neutral” noch wenigstens der Versuch einer neutralen Beobachtung sein, sondern sie dürften „Extrempositionen” darstellen, die insgesamt massenhaft (50%) zitiert wurden. ”
Ich finde ja hier kommt ein fundamentaler Fehlglaube zum Vorschein - natürlich stimmt das, aber das ist bei einer Zeitung oder anderen Medien keineswegs anders. Es gibt keinen “grundsätzlichen” Grund, warum konventionelle Medien hier anders/besser/neutraler sein solten als Blogs etc.
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Schöne Analyse, danke. Aber in der Konklusion, meine ich, werden Äpfel mit Birnen verglichen. Twitter ist kein bloßes Newsportal. Die “Gefärbtheit” der persönlichen Meldungen ist ein Kennzeichen des Mediums.
Daß viel Retweetet wird, und Extrempositionen rausgehauen werden, halte ich nicht für schlimm, sondern es ist Ausdruck von pers. Betroffenheit und Informiertheit.
Peter Kruse spricht in dem Zusammenhang von “kreisender Erregung” mit hoher Vernetzungsdichte. (Als Phänomen der Netzkultur)
http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/2010/Sitzungen/20100705/index.jsp
Vortrag bei Enquete-Kommission Bundestag: http://www.youtube.com/watch?v=sboGELOPuKE
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(@pirat_aleks_a)
Schade, dass Sie nicht auch die Tweets davor analysiert haben. Dass sich die Polizei mit Wasserwerfern Richtung Bahnhof in Martsch setzen hat @kungler am späten Vormittag getwittert, die Nachricht wurde heftig retweeted, weil viele Schüler ja ein Smartphone haben, in dem ein twitter client läuft.
Auch im Laufe der Geschehnisse wurden Links zu Videos und Bilder getweeted. Die Piratenpartei stellte schleunigst eine Sammlung dieser Links auf, auch die wurde über twitter veröffentlicht und verbreitet.
Ich behaupte, ohne die demokratische Gegenöffentlichkeit von Twitter, unterstützt von Youtube und anderen Plattformen für Bilder wäre die Polizeigewalt weniger zum Thema geworden. Es ist bekannt, dass klassische Medien sich auch aus den Informationen aus twitter ernähren.
Auch die Mahnwachen noch am selben Abend wurden unter anderem über Twitter und das Piratenpad organisiert. In letzterem haben alle Zeit- und Ortangaben der Mahnwachen reingeschreiben.
Das Netz hat hier seine Rolle als Werkzeug zur Demokratisierung voll ausgeschöpft.
Vielleicht können sie es nachholen. Ich kenne Netizens, die Datenbanken von Tweets bevorraten. Entsprechend haben sie auch die Tweets vom 30.09.2010.
Schönen Gruß
Aleks
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